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Schrift-Anatomie

Der Körper der Buchstaben

Schaubild zur Schrift-Anatomie

Wenn es darum geht, die Grundstruktur einer Schriftart zu beschreiben, dann greifen Typografen gern auf das Bild der Anatomie zurück: Sie betonen damit zu Recht, wie wichtig der Aufbau von Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen eines Fonts ist und welch elementare Bedeutung er für deren Funktion und Zusammenspiel innehat.

Warum ist Schriftanatomie für die Schriftgestaltung relevant?

Schriftdesigner bedenken bei der Entwicklung einer neuen Schrift jedes kleine Detail, da diese bedeutende Auswirkungen auf die Lesbarkeit und die praktischen Einsatzmöglichkeiten haben.

Ein Schriftgestalter, dessen Fokus in der typografischen Anwendung liegt, sollte sich zumindest ein Grundwissen in diesem Bereich aneignen. Dieses ist unabdingbar, um ein grundlegendes Verständnis davon zu entwickeln, durch welche Elemente Schriftarten ihren individuellen Charakter erhalten.

Warum manche in geringer Größe gut und andere kaum lesbar sind, welche sich daher als Fließtext und andere eher als Auszeichnungsschrift eignen und welche Auswirkungen für Anwendungen wie Webdesign oder Hell-auf-Dunkel-Druck zu bedenken sind. Mit Fachwissen in der Schriftanatomie ist es möglich, die richtige Schrift für den jeweiligen Zweck auszuwählen und diese kreativ sowie professionell einzusetzen.

Buchstabenmaße und Liniensystem

Buchstaben lassen sich mit einer Reihe von Maßen erfassen. Auf diesen aufbauend werden sie in ein vertikales Liniensystem eingeordnet (ähnlich wie es bei der Schreibung von Musiknoten angewandt wird). Die Beachtung dieser sogenannten Typometrie ist relevant bei der Mischung von Schriften: sollen diese ein harmonisches und flüssiges Lesebild ergeben, so müssen die Grundlinien möglichst identisch sein.

Betrachten wir zunächst die Buchstabenmaße:

Der Kernbereich der Buchstaben wird mit dem Begriff Mittellänge oder x-Höhe beschrieben und entspricht der regulären Höhe der Kleinbuchstaben (auch Minuskeln genannt). Dieses Maß bestimmt wesentlich, ob ein Text auch in geringer Schriftgröße noch lesbar ist. Insbesondere bei der Wahl eines Fonts für Buch- oder Zeitungsdruck sollte also auf eine gut ausgeprägte Mittellänge geachtet werden.

Ober- und Unterlänge
Mittellänge oder x-Höhe

Die Versalhöhe ist die vertikale Ausdehnung der Großbuchstaben bzw. Majuskeln.

Ober- und Unterlänge
Versalhöhe

Die Oberlänge beschreibt denjenigen Teil der Kleinbuchstaben, der über die Mittellänge oben hinausragt: zum Beispiel beim d, f, t, l, h oder k. Sie ist meist etwas größer als die Versalhöhe – ein optischer Trick, um diese Minuskeln mit den Großbuchstaben auf einer Höhe erscheinen zu lassen. Das ist insbesondere bei kursiven Zeichen relevant, die aufgrund ihrer Neigung andernfalls kürzer als ihre geraden Äquivalente erscheinen würden.

Die Unterlänge misst denjenigen Teil der Kleinbuchstaben, welcher bei einigen Zeichen (g, j, p, q und y) unter der x-Höhe nach unten hinausragt. Sie sollten idealerweise nicht kürzer als die Oberlängen sein.

Ober- und Unterlänge
Ober- und Unterlänge

Ober- und Unterlängen sind für das Erscheinungsbild der Schriftart und für deren Lesbarkeit bedeutsam. Vergleicht man verschiedene in dieser Hinsicht deutlich abweichende Fonts, so wird anschaulich, dass diejenigen mit ausgeprägten Längen über und unter der x-Höhe optisch größer wirken. Diese Längen helfen dem Auge überdies dabei, Fixations- oder Ruhepunkte beim Lesen eines Fließtextes zu finden.

Der Begriff der Kegelgröße stammt noch aus der Zeit des Bleisatzes, als das einzelne Zeichen auf einem Metallbaustein aufgebracht war: dem Kegel. Dieser war etwas größer als der eigentliche Buchstabe. Umgangssprachlich wird heute damit oft die Schriftgröße bezeichnet. Korrekter wäre dafür der Begriff der Schriftbildhöhe oder hp-Höhe: also die größte vertikale Ausdehnung einer Schrift als Summe aus Ober- und Unterlänge.

Kegelgröße
Kegelgröße

Mit diesen Maßen können wir nun die Linien benennen:

Grundlinie oder Schriftlinie Ausgangsbasis ist die horizontale Grundlinie oder Schriftlinie, auf der sich alle Buchstaben aufreihen und von der ausgehend alle weiteren Linien bestimmt werden.
p-Linie oder Unterlinie Die p-Linie oder Unterlinie erfasst den Bereich, den die Unterlänge von der Grundlinie ausgehend einnimmt.
Mittellinie oder x-Linie Die Mittellinie oder x-Linie ist von der Grundlinie um die Mittellänge nach oben versetzt. In diesem Bereich befinden sich die Kleinbuchstaben ohne Über- und Unterlänge, wie zum Beispiel das x, a, o, u und viele weitere.
Oberlinie oder k-Linie Die Überlängen der Kleinbuchstaben befinden sich im Bereich der Oberlinie oder k-Linie. Da die Überlängen in der Regel höher sind als die Versalhöhe, ist diese Linie nicht identisch mit der Versalhöhe oder H-Linie (die sich aus der Höhe der Großbuchstaben berechnet), sondern liegt etwas höher.
Liniensystem
Liniensystem

Form der Buchstaben

Die Form eines Buchstabens wird durch die druckenden Bereiche definiert. Linien geben dem Letter wie ein Skelett seine grundlegende Form und schließen nichtdruckende Innenflächen ein.

Nicht alle Details sind für den Schriftgestalter gleichermaßen relevant (ein Schriftentwickler sollte hingegen jedes Detail sehr genau studieren), aber auf einige bedeutsame soll im Folgenden der Fokus gesetzt werden, da sie für die Schriftauswahl relevant sind.

Das Grundgerüst und die Extremitäten

vertikale Grundstrich oder Stamm Der wichtigste Strich eines Buchstaben ist der zentrale, vertikale Grundstrich oder Stamm – dieser baut die Form des Buchstabens auf.
Querstrich Der Querstrich durchkreuzt einen senkrecht nach unten führenden Strich. Die dünnste Linie eines Letters wird Haarstrich genannt.
Neigungsachse Die Neigungsachse ist eine gedachte Linie, welche für die Schriftklassifikation ein wichtiges Merkmal darstellt: Die frühe Renaissance-Antiquaschriften haben eine nach links geneigte Achse, während die spätere Barock-Antiqua eine senkrechte Achse aufweist.
Auf- oder Abstrich Diagonale Linien werden je nach ihrer Richtung Auf- oder Abstrich genannt. Wendepunkte von Aufstrich und Abstrich heißen in der Fachsprache Scheitel (wenn sie den Wechsel von auf- nach abwärts bezeichnen) bzw. Sohle (der Wechsel vom Abstrich zu Aufstrich).

Bei den Bezeichnungen für die gerundeten Linien der Buchstaben wird die Anatomie-Metapher unübersehbar: die runden Linien, welche Buchstabeninnenräume umschließen, bezeichnet man als Bauch. Kommt es zum Beispiel an einer solchen Stelle zu einer Vergrößerung der Strichstärke, redet man von einer Verdickung. Eine Taille ist eine Einbuchtung zwischen Bögen, wie sie charakteristisch zum Beispiel beim Großbuchstaben B entsteht. Die oberen Runden des m, n, a oder h benennt man als Schulter. Beine sind die kurzen Abstriche am K, k oder R.

Neben diesen allgemeinen Linien gibt es einige Spezialfälle, welche häufig für die Schriftklassifikation bedeutsam sind: Bei dem Minuskel g ist die die Unterlänge entweder offen oder geschlossen und wird als Schlinge oder Schleife bezeichnet. Ihre Form kann ein wichtiges Indiz zur Unterscheidung und Erkennung einzelner Schriftarten sein. Da der Kleinbuchstabe g so ein wichtiges Zeichen ist, hat selbst die verbindende Linie zwischen Schlinge und Grundlinie einen eigenen Namen: der Steg.

Buchstabeninnenflächen

Das Grundgerüst schließt die Buchstabeninnenflächen ein, die sogenannten Punzen. Die geschlossene Punze, auch Auge genannt, wird vollständig von Strichen umschlossen und kommt in den Buchstaben a, A, b, B, d, D, e, g, o, O, p, P und q sowie Q vor. Andere Letter mit Innenflächen haben einseitig offene Punzen: Zum Beispiel h, m oder u.

Die Punzen sind ein wichtiger Anhaltspunkt, welchen Wortzwischenraum man bei der jeweiligen Schriftart wählen sollte. Dieser ist ein entscheidendes Element bei der Lesbarkeit – ist er optimal gewählt, unterstützt er das Auge dabei, Worte voneinander abzugrenzen und Ruhepunkte zu finden. Als optimaler Zwischenraum gilt die Punzenbreite des Minuskels „n“.

Punzen sind ebenfalls relevant für die „Robustheit“ eines Fonts. Bei niedriger Druckqualität auf grobstrukturierten oder viel Feuchtigkeit aufnehmenden Papier (zum Beispiel Zeitungsdruck) laufen enge Innenräume zu: Das Schriftbild verfälscht und die Lesbarkeit verschlechtert sich enorm.

Bedeutung der Serifen

Als Serifen werden die Linien bezeichnet, welche einen Buchstabenstrich als Ausläufer am Ende quer zu seinem Richtungsverlauf abschließen. Sie variieren in Größe, Linienstärke und Rundung. Die abgerundete Ecke zwischen dem angrenzenden Strich und der Serife nennt man Kehlung oder Serifenrundung.

Obwohl Serifen scheinbar nur ein weiteres kleines Detail in der Anatomie der Buchstaben sind, stellen sie ein elementares Kriterium in der Schriftklassifikation dar: Schriften werden in Klassen mit Serifen (zum Beispiel Antiqua oder Egyptienne) eingeordnet oder gehören zur Klasse der Sans Serif, also der serifenlosen Schriften (auch Groteske genannt, weil diese verhältnismäßig junge moderne Schriftentwicklung Anfang des 19. Jahrhunderts mit den jahrhundertelangen Sehgewohnheiten von Schriften brach).

Serifen haben nicht nur hohen dekorativen Wert und bestimmen den Charakter eines Fonts entscheidend mit: Serifenschriften lassen sich im gedruckten Mengentext hervorragend einsetzen und deutlich leichter lesen. Die Fußserifen leiten das Auge zum nächsten Buchstaben und unterstützen den Lesefluss. Das Auge ermüdet nicht so schnell.

Weitere dekorative Linienabschlüsse neben Serifen

Der Abstrich ist ein verjüngtes Strichende, im allgemeinen verbunden mit einer leichten Drehung. Der Anstrich ist entsprechend ein verjüngter Strichansatz. Ein Tropfen oder ein Kugelende ist eine punktförmige Verdickung an einem Linienabschluss. Er bildet sich häufig im Bogen des r, f oder j und vieler weiteren Letter. Wird er aus dekorativen Erwägungen zusätzlich an einen Buchstaben gesetzt, spricht man von einem Ohr.

Bei diesen Linienabschlüssen lassen sich die Ursprünge des früheren Schreibens mit einem Pinsel oder einer Feder sehr deutlich erkennen. Viele Charakteristika in der Schriftanatomie sind aufgrund von früheren technischen Notwendigkeiten heraus entstanden (so entwickelten sich die Serifen ursprünglich als Abdruck des Keils in Ton und der Spur des Meißels in Stein). Sie haben sich als ästhetische Elemente erhalten und teilweise wahrnehmungspsychologisch als sinnvoll erwiesen.

Bei Buchstaben ohne Serifen oder andere Abschlüsse wird das Ende der Linie schlicht Endstrich genannt.

Ligatur: Vereinigung zweier Buchstaben

Ein Spezialfall in der Buchstabenanatomie ist die Ligatur: Eine Verschmelzung von zwei oder gelegentlich sogar drei Buchstaben zu einer Buchstabenverbindung und eigenständigem Zeichen. Hochwertige Fonts enthalten Ligaturen für problematische Kombinationen wie fi oder fl. Sie optimieren den Ausgleich der Schriftweiten und schaffen eine elegante Lösung an den Stellen, wo sonst Buchstaben zum Beispiel an ihren Oberlängen zusammenstoßen würden.