Erkennt der Leser den Qualitätsunterschied bei Schriften überhaupt?
Warum viel Geld für eine lizenzierte Schrift ausgeben, wenn es doch so viele kostenlose Fonts im Internet gibt? Sicher hat sich fast jeder, der typografisch arbeitet, diese Frage schon einmal gestellt. Bemerkt der Leser den Unterschied eigentlich? Sieht er es überhaupt, wenn er eine hochwertige Schrift vor sich hat? Die Antwort mag auf den ersten Blick überraschen: Der Leser sieht es nämlich nicht, und das ist gut so!
Harmonie und Dissonanz
Ein kleines Beispiel zu Beginn: Wer in ein Konzert geht, um klassische Musik zu genießen, lauscht der wunderbaren Harmonie des kompletten Orchesters. Dabei wird er eine einzelne Geige, eine Bratsche oder ein Cello nicht heraushören - und genauso soll es sein, denn die Musik wird als Gesamtkomposition präsentiert und wahrgenommen.
Was aber passiert, wenn die Geige einen schlechten Tag hat und ein Misston von ihren Saiten den Weg in die Ohren der Besucher findet? Jetzt steht die Geige garantiert und unzweifelhaft im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, denn dieser eine falsche Ton hat jeden im Saal zusammenzucken lassen.
Eine ähnliche, wenn auch optische Wirkung, hat eine schlecht vektorisierte, in ihren Möglichkeiten viel zu limitierte Schrift. Das Auge wird das Layout der Seite nicht mehr als Gesamtkomposition wahrnehmen, sondern an kleinen, unschönen Fehlern hängen bleiben. Damit sind der Lesefluss und die umfassende Wirkung der Seitengestaltung wegen eines ärgerlichen Details gestört, schlimmstenfalls sogar ruiniert.
Eine falsch gestellte Frage
Die Frage "Sieht der Leser, wenn er eine hochwertige Schrift vor sich hat?" ist also falsch gestellt. Denn der Leser soll die Schrift als Werkzeug gar nicht wahrnehmen, sondern das Layout der fertig gesetzten Seite als Ganzes begreifen. Der erfolgreiche und sehr bekannte Schriftenentwickler Weidemann hat dies einmal sehr treffend in Worte gefasst: Er stellte fest, dass gute Typografie ebenso wenig bemerkt wird wie gute Atemluft. Schlechte jedoch bemerkt man sofort, weil diese einem stinkt.
Eine treffendere Fragestellung wäre demnach: Wie muss eine Schrift sein, damit sie den Betrachter nicht stört? Bemerkt der Leser nicht die Hochwertigkeit selbst, sondern lediglich ihr Fehlen, darf die Schrift dem Auge keinen Anlass geben, an mangelhaften Details hängen zu bleiben. Hier kommt ein Qualitätsanspruch ins Spiel, den zumeist nur eine lizenzierte, professionell designte Schrift umfassend erfüllen kann.
Was leistet eine professionelle Schrift?
Eine Schriftart ist ein Werkzeug, das der erfahrene Typograf geschickt einzusetzen weiß. Sie soll den Text nicht dominieren, sondern ordnet sich seinem Zweck harmonisch unter. Sie stützt und trägt den Inhalt, ohne ihn mit Geltungsbedürfnis zu übertünchen oder von ihm abzulenken.
Ein gutes Werkzeug zeichnet sich durch Vielseitigkeit, Funktionalität und eine hohe Qualität aus. Eine gute Schrift wird auch in sehr großen oder kleinen Größen ihr sauberes Schriftbild nicht verlieren, keine Kanten entwickeln, wo Bögen gewünscht sind, und genügend Sonderzeichen bereithalten, um auch ungewöhnliche Ansprüche zu erfüllen.
Und wenn der Leser den Text schließlich sieht und nicht bemerkt, wie qualitativ hochwertig die verwendete Schrift ist, ist das ursprüngliche Ziel des Typografen erreicht. Darum lohnt es sich sehr wohl, auf professionelle Schriften zu setzen - denn mit einem minderwertigen Werkzeug lässt sich nur sehr schwer exzellente Arbeit leisten.